Bündnis Herne am 13. Dezember 2021
Seit dem 27. November 2021 ist Herne um einen politischen Akteur reicher. Bereits drei Mal demonstrierte eine bunt gemischte Gruppe von etwa 60 Personen samstags vormittags in der Bahnhofsstraße „für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft“, für „leuchtende Kinderaugen, statt tränender“ und „gegen 2G auf Weihnachtsmärkten“. Im Aufruf, im Auftreten und der Kommunikation betont man Friedfertigkeit und Akzeptanz unterschiedlicher Anschauungen und proklamiert, mit Solidarität einer empfundenen Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken zu wollen. In der folgenden Einordnung wollen wir den Motiven der Gruppierung nachspüren und deutlich machen, weswegen wir als Bündnis Herne mit einem großen Maß an Skepsis auf diese neue Formierung blicken.
Die heterogene, bisher namenlose Gruppierung versteht sich selbst als vollkommen unpolitisch und begeht in dieser Selbsteinschätzung ihren Kardinalfehler. Wer das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nutzt, um ein gemeinsames Anliegen in der Öffentlichkeit zu vertreten, betritt ohne jeden Zweifel den politischen Raum. Demonstrationen sind politisch und so sind es auch die Anliegen, die vertreten werden.
Offenkundig speist sich das Mobilisierungspotential des neuen Zusammenschlusses nicht aus einer einheitlichen politischen Agenda, sondern es herrscht mehrheitlich eine reale, lebensweltliche Frustration über inzwischen fast zwei Jahre pandemischen Ausnahmezustandes, der nur hin und wieder von Phasen der Entspannung unterbrochen wurde. Diese Frustration ist menschlich komplett nachvollziehbar. Natürlich gibt es eine Reihe von Gründen, wegen derer wir alle (nicht nur als Gesellschaft in der Bundesrepublik, sondern als gesamte Menschheit) ausgelaugt und frustriert sind. Eine Reihe dieser Gründe wirft existenzielle Fragen auf; sei es die konkrete gesundheitliche Gefährdung durch das Virus, sei es ökonomische Bedrängnis oder die Gefährdung der eigenen seelischen Gesundheit oder der von Freund:innen und Angehörigen, nicht zuletzt der von Kindern und Jugendlichen. Manche sind vielleicht auch nur enttäuscht vom bisweilen etwas hemdsärmelig wirkenden Agieren der Politik. Auch das ist nachvollziehbar, denn während der vergangenen Monate gab es viel Hin und Her, es wurden Fehler gemacht, leichtfertig falsche Versprechen gegeben und dadurch viel Vertrauen verspielt und Verunsicherung geschürt.
Wir haben daher zunächst einmal Verständnis für Unzufriedenheit, aber auch einige Kritikpunkte an den samstäglichen Zusammenkünften, die wir als antifaschistische Stimme der Herner Zivilgesellschaft gerne benennen möchten.
Erstens muss jede Gruppierung, die zu Demonstrationen für oder gegen etwas aufruft, sich überlegen, wen sie an ihrer Seite haben möchte. Sicher kann man für bestimmte höhere Zwecke auch politische Gräben überwinden – so möchte das Bündnis Herne ja ebenfalls von konservativ bis links alle Demokrat:innen ansprechen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen – aber man muss mit Kritik rechnen, wenn man keine Grenze zieht. An den Demonstrationen der vergangenen zwei Wochen haben mehrere Rechtsextreme teilgenommen, die bereits von den Aufmärschen der Mischszene rund um „Stark für Herne“ 2019 und 2020 bekannt sind. Vertreten war außerdem Guido Grützmacher von der AfD, der sich rege an den strategischen Besprechungen beteiligte, die nach dem Ende der Demo am 11.12. auf dem Europaplatz abgehalten wurden. Mindestens einer der Rechtsextremen aus dem Umfeld von „Stark für Herne“ fantasiert in sozialen Netzwerken auch bereits von Zuständen, wie wir sie teilweise aus dem Osten der Republik kennen, wo Pressevertreter:innen und andere kritische Stimmen teils gewalttätig angegangen werden. Wer neben einem Faschisten auf der Straße steht und gemeinsam mit ihm „Freiheit“ fordert, sollte sich fragen, ob man auch die gleiche Freiheit meint. Wir bezweifeln, dass der Großteil der Demonstrierenden gemeinsame Sache mit Rechten machen möchte. Die Organisationsstruktur der Demonstration muss sich deshalb überlegen, ob man weiterhin mit diesen Leuten paktieren möchte. Wer an der Seite von Nazis demonstriert, begibt sich außerhalb des demokratischen Wettstreites um das bessere Argument.
Zweitens muss jede Gruppierung, die sich in die öffentliche Debatte um große Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität einbringen möchte, auch ein Verständnis von diesen Begriffen entwickeln und kommunizieren. So ist zu fragen, wessen Freiheit eigentlich gerade durch was eingeschränkt wird und wie diese Freiheit jeweils beschaffen ist. Wir als Bündnis Herne sehen es als Hauptaufgabe einer solidarischen Gesellschaft an, ihre verletzlichsten Mitglieder zu schützen. Die Impfung gegen Covid-19 ist praktizierte Solidarität. Wir alle wollen zurück zu einer möglichst großen Unbeschwertheit, wir wollen Veranstaltungen besuchen können und Freund:innen umarmen, wir alle träumen von Freiheit. Doch wir sehen auch, dass die Freiheit Einzelner dort enden muss, wo die Freiheit Anderer anfängt und bedroht wird. Wenn ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankung deshalb nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, weil eine Minderheit zu hohen Inzidenzen und zur Überlastung des Gesundheitssystems beiträgt, ist dieser Punkt erreicht. Es ist daher richtig, politischen und gesellschaftlichen Druck auf diejenigen aufzubauen, die bisher nicht zu dem Entschluss gelangen konnten, sich impfen zu lassen. Richtig ist auch, dass Selbstbestimmung – vor allem der Schutz des Körpers vor staatlichem Zugriff – ein hohes Verfassungsgut ist, doch Recht bedeutet immer Rechtsgüterabwägung. Was wiegt also schwerer: Ein überlastetes Gesundheitssystem, Tote durch Covid-19 und Tote durch de-facto-Triage, weil zahlreiche wichtige Operationen verschoben werden müssen oder ein intramuskulärer Piks in den Oberarm? Wie alle anderen Medizinprodukte können auch bei den Covid Vakzinen extrem seltene unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, allerdings wurde kaum jemals ein Medikament derart intensiv geprüft und vor allem in diesem Volumen angewendet. Der Nutzen der Impfung überwiegt das Restrisiko bei weitem, insbesondere, wenn man bedenkt, dass alle ungeimpften Menschen eher früher als später mit einer Covid-Erkrankung konfrontiert sein werden. Ängste, die trotz dieser absolut klaren Faktenlage weiterbestehen, sind entweder pathologisch und als solche mit Sensibilität adressierbar oder sie sind das Ergebnis von Desinformation, der wiederum mit Aufklärung begegnet werden muss. Wer Ängste in diese Richtung haben sollte, ist gut beraten, sie offen mit der eigenen Hausärzt:in zu bereden und sich nochmals die Faktenlage darlegen zu lassen.
Wir ermuntern alle Demokrat:innen, sich weiterhin kritisch mit politischen Entscheidungen auseinanderzusetzen, denn Kritik und der Streit zwischen unterschiedlichen Positionen sind die Basis unserer Demokratie. Wir rufen dazu auf, sich nicht mit Nazis und anderen Rechten gemein zu machen und ihre verschwörungsideologischen Erzählungen nicht mitzutragen. Wir fordern von den Organisator:innen der Demonstrationen „Gegen die Spaltung der Gesellschaft“ eine unmissverständliche Distanzierung von rechten Personen und Narrativen. Sollte der Orga-Kreis dazu nicht Willens oder fähig sein, fordern wir alle Demokrat:innen auf, der Veranstaltung fernzubleiben.