Jacob Liedtke am 6. März 2022
Ich hatte mir vorgenommen, ein Redemanuskript für die Kundgebung des Bündnis Herne am 06. März zu schreiben, in dem es um eine Positionierung des Bündnisses zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gehen sollte. Um die Bewunderung von „Querdenken“ und der internationalen Rechten für den Despoten Vladimir Putin. Und um die Erkenntnis, dass Demokratie nie selbstverständlich ist, sondern immer wieder erkämpft werden muss. Die Verkürzung unseres Kundgebungsprogramms hat nunmehr dazu geführt, dass der Redebeitrag nun als schriftlicher Kommentar veröffentlicht wird.
Ich hatte mir für diesen Beitrag vorgenommen, einen Konsens zu umreißen, der aktuell Menschen weltweit eint und hinter dem sich auch alle Demokrat:innen in Herne möglicherweise würden versammeln können. Und sicher – uns eint Vieles: Die Verurteilung der russischen Aggression, das Mitgefühl gegenüber den Menschen in der Ukraine und denen auf der Flucht. Uns eint überall sichtbare Hilfsbereitschaft und vor allem eint uns alle die tiefgehende emotionale Erschütterung über diesen historischen Völkerrechtsbruch.
Ich überlegte nun also, was noch gesagt werden muss, was in den vergangenen Tagen nicht schon tausendfach gesagt worden ist. Und auch wenn selbstverständlich nie oft genug betont werden kann, dass die Menschen der Welt mit ihren Herzen, Gedanken und Taten an der Seite der Menschen in der Ukraine stehen, wirkt doch jedes Wort darüber irgendwie zu wenig. Trotz aller Worte bleibt irgendwo Sprachlosigkeit.
Die Bilder der Brutalität des Krieges, die Bilder von Flucht und die Bilder von rücksichtsloser Zerstörung treffen uns alle tief in unsere Herzen. Wir sehen, wie Menschen alles Vertraute und Geliebte verlieren. Wir sehen die Opfer an Leben, die die Verteidigung der ukrainischen Freiheit und Souveränität kostet. Und so tief, wie wir diese Bilder aufnehmen, so tief sind auch die Emotionen, die sie in uns auslösen. Einige Menschen sind erfüllt mit Trauer, andere mit Angst, manche sind konsterniert und wie bewegungslos, andere stürzen sich in praktische Solidarität und organisieren Hilfe oder versuchen, politisch Stellung zu beziehen.
Unsere Erfahrungen, Perspektiven und möglicherweise Traumata rahmen unsere Blicke auf die Bilder aus der Ukraine. Unsere individuellen Lagen in dieser Gesellschaft geben uns Handlungsspielräume, wie wir mit ihnen umgehen können. Ich kann heute keinen Konsens zur weltpolitischen Lage umreißen, der über das hinausgeht, was schon gesagt worden ist. Ich kann nur sagen: Niemand steht alleine vor dem Chaos der Welt und niemand ist allein mit der Schwierigkeit, etwas Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Wir alle mögen beim Sortieren der zahllosen Emotionen und Gedanken in einzelnen Fragen zu sehr unterschiedlichen Schlüssen gelangen. Aber wir alle können uns stützen und aneinander wachsen, wenn wir uns gegenseitig leiten, uns zuhören, unterschiedliche Perspektiven abwägen und möglicherweise gemeinsam zu neuen Schlüssen kommen.
Wichtig ist dabei, dass wir dabei vor allem die Perspektiven derer sichtbar werden lassen, deren Stimmen in der allgemeinen Wahrnehmung oft marginalisiert werden und untergehen.
Wir müssen allen zuhören, die in der vergangenen Zeit nach Deutschland und Europa geflüchtet sind. Wir müssen uns fragen lassen, weshalb es Vielen offenbar leichter fällt, Menschen willkommen zu heißen, deren äußeres Erscheinungsbild sie als weniger fremd erscheinen lässt, als Menschen aus dem Iran, aus Kurdistan oder Guinea. Als Europäer:innen müssen wir uns fragen lassen, wieso wir seit Jahren Pushbacks und menschenunwürdige Lager an unseren Außengrenzen dulden, wenn wir doch offenbar zu Empathie und Menschlichkeit in der Lage sind. Alle Menschen, die Schutz vor Gewalt, Verfolgung und Elend suchen – ob aus der Ukraine oder anderen Regionen dieser Welt – haben das Recht, mit der gleichen Menschlichkeit empfangen zu werden. Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben!
Lasst uns aber auch aufmerksam sein, wenn Russinnen und Russen, oder Menschen, die dafür gehalten werden, von Antislawismus berichten. Russischstämmige Restaurantbesitzer:innen in diesem Land können nämlich nichts für den Krieg und die Großmachtsphantasien von Vladimir Putin, die getragen werden von seinen Vertrauten im russischen Staat, seiner Wirtschaft und großen Teilen seiner orthodoxen Kirche. Lasst uns aufstehen, wenn Russ:innen Diskriminierung erfahren und lasst uns oppositionelle Stimmen in Russland und hier vor Ort unterstützen.
Lasst uns auch den Stimmen Gehör schenken, die in den 1990er Jahren aus der Balkanregion geflohen sind oder Menschen aus Abchasien, Südossetien, Tschetschenien, Transnistrien, dem Donbass oder anderen Regionen Osteuropas. Verdrängen wir nicht die Kriegserfahrungen dieser Europäer:innen, nur, weil sie uns vielleicht vor Augen führen würden, dass der Westen Putin oder andere Despoten schon viel zu oft, viel zu lange hat gewähren lassen. Krieg in Europa gibt es nicht erst seit dem 24. Februar, allein der Krieg in der Ukraine schwelt bereits seit 2014.
Ich wünsche mir Öffentlichkeit für trans Menschen, die bei ihrer Ausreise aus der Ukraine Probleme bekommen, weil ihr Geschlecht im Kontext der allgemeinen Mobilmachung angezweifelt wird. Ich wünsche mir außerdem Öffentlichkeit für die Frage der Geschlechtlichkeit des Krieges im Allgemeinen. Oft wird gefragt: Wäre die Welt eine bessere, wenn die Hälfte der Macht Frauen gehören würde? Wir können es nicht wissen, aber auf einen Versuch sollten wir es ankommen lassen. Männer wie Putin handeln wie Männer wie Putin – keinesfalls nur, aber auch – weil sie besessen sind von ihrer fragilen Männlichkeit. Maskulinismus und eine patriarchale Gesellschaftsauffassung quellen aus den politischen Handlungen Vladimir Putins – allein wenn man die Debatte um das Gesetz über „Homosexuelle Propaganda“ betrachtet. Der Krieg ist deshalb gewissermaßen auch die letzte Eskalationsstufe von Putins Hypermaskulinismus, der auch schon in seinen Oben-Ohne-Kalenderaufnahmen, thronend auf einem Pferd oder mit Waffe in der Hand, aufscheint. Krieg hat aber nicht nur wegen Vladimir Putins brüchigem Ego etwas mit Geschlecht zu tun.
Die eben erwähnte Situation von trans Personen im Zusammenhang mit der allgemeinen Mobilmachung ist dafür repräsentativ. Wir müssen uns fragen, wieso die Vorstellung ehrenhaft kämpfender Männer und sorgender Frauen sich im Kontext des Krieges auch 2022 noch so hartnäckig hält.
Ich selbst bin ein Mann im sogenannten wehrfähigen Alter. Was würde ich machen, wenn wegen einer despotischen Aggression plötzlich alles auf dem Spiel stünde? Wenn nicht ein Land angegriffen würde, in dem ich zufällig lebe, sondern die Ideen von Freiheit und Demokratie selbst? Die Ukrainer:innen haben sich seit der Vertreibung von Viktor Janukowytsch in Folge des Euromaidan zunehmend von Russland emanzipiert und sich der Demokratie zugewandt. Auch heute kämpfen viele Menschen in Charkiv, Kiew, Odessa, Cherson oder anderen Städten nicht nur für die Souveränität und Freiheit der Ukraine, sondern sie erklären sich selbst zur Frontlinie eines Angriffes auf die Demokratie und auf die Idee der europäischen Einigkeit als solcher. Viele entscheiden sich genau deshalb bewusst zu bleiben, aus der tiefen Überzeugung, dass ihre Werte verteidigenswert sind. Daran ist nichts heroisches, denn Tod und Verstümmelung bergen nichts Schönes. Niemand kann Krieg wollen. Ja, er ist das Schlechteste, was der Mensch hervorzubringen vermag. Aber manchmal kann man nicht selbst entscheiden, ob man den Krieg oder den Frieden wählen möchte. Der Krieg kann einfach Realität werden. Jederzeit, auch in Europa. Es bereitet mir Unbehagen, mir selbst die Frage danach zu stellen, was ich tun würde, wenn alles auf dem Spiel stünde. Würde ich kämpfen oder fliehen?
Ich weiß es nicht und bin dankbar für das nicht selbst verdiente Privileg, mir diese Frage bisher nicht konkret stellen zu müssen. Was ich aber weiß, ist, dass ich tiefe Achtung vor allen Frauen und Männern habe, die ihre Städte vor den Aggressoren verteidigen, teils unbewaffnet und indem sie russischen Militärkolonnen einfach den Weg abschneiden. Ich wünsche mir für diese Menschen, ich wünsche mir für die Ukraine und ich wünsche mir für Frieden und Freiheit in der Welt, dass der russischen Invasion am Ende kein Erfolg beschieden sein wird. Auch wenn die Nachrichten in diesen Tagen wenig Gutes erahnen lassen.
Slava ukrajini!
Jacob Liedtke am 06.03.2022