Bündnis Herne am Okt. 03, 2024
Ich bin sauer.
Ich bin sauer, wenn ich sehe, wie die demokratischen Parteien mit großen, erstaunten Augen auf die Wahlergebnisse in Thüringen, Sachsen und Brandenburg schauen und sich fragen, wie das passieren konnte: die AfD erreicht jeweils um die 30% der abgegebenen Stimmen.
Ich bin empört darüber, wie viele Menschen sich offenbar eine autoritäre Führung wünschen, einen „starken Mann“ an der Spitze, der endlich aufräumt. Das sind keine Protestwähler:innen, die treffen ihre Wahlentscheidung für Antidemokrat:innen und Faschist:innen aus Überzeugung.
Noch viel mehr Menschen haben Umfragen und Analysen zufolge das Vertrauen in einen funktionierenden Staat und in die Politik verloren. Sie wünschen sich Orientierung in unruhigen Zeiten mit komplexen Problemen – und das mit gutem Recht!
Ich habe nicht die Lösung für die Frage, wie „die Politik“ das Vertrauen zurückgewinnen kann. Aber ich hätte da ein paar Gedanken in Richtung der demokratischen Parteien in den Parlamenten, basierend auf meinen eigenen subjektiven Wahrnehmung.
Demokratie bedeutet: Position beziehen, mit Argumenten zu überzeugen versuchen, eine Mehrheit hinter sich versammeln oder einen Kompromiss finden.
Demokratie bedeutet insofern auch: akzeptieren können, dass man die eigene Position vielleicht nicht durchsetzen konnte.
Demokratie heißt durchaus Auseinandersetzung und Streit, aber in der Sache!
Ihr tut aber etwas anderes: die Auseinandersetzungen zwischen den demokratischen Parteien werden in den letzten Jahren zunehmend persönlich geführt. Es wird polarisiert und beleidigt, was das Zeug hält. Jede Gegenposition wird reflexartig zur Ideologie erklärt, die abgelehnt und bekämpft werden muss. Darüber treten die Inhalte völlig in den Hintergrund:
Initiativen zum Klimaschutz, für bezahlbaren Wohnraum, für eine moderne Familienpolitik, die ihren Namen verdient, für eine gerechte Verteilung der Lasten und Pflichten – und ja, auch über eine gerechte Verteilung der Privilegien.
Ihr solltet Vorbilder sein für die Menschen, die euch wählen sollen. Ihr solltet ihnen vorleben, wie der demokratische Prozess funktioniert. Stattdessen tragt ihr die Polarisierung in unseren Alltag. Ihr tragt durch euer Auftreten dazu bei, dass bei vielen Menschen die Hemmschwelle in alltäglichen Streitigkeiten sinkt, weil sie vorgelebt bekommen, dass das offenbar ok ist. Ihr tragt dazu bei, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zum Konsens verloren gehen.
Das richtet sich vor allem an die CDU/CSU, die die Grünen quasi zum „Endgegner“ erklärt hat.
Im Ergebnis wird nicht mehr über das Für und Wider in Bezug auf Vorschläge diskutiert, sondern über das Für und Wider in Bezug auf Parteien und Personen. Die FDP macht ebenfalls immer wieder bei diesem Niveaulimbo mit – und das als kleinster Koalitionspartner in der Ampel.
Auch die SPD und die Grünen sind nicht frei davon.
Seid ihr eigentlich noch ganz dicht, alle miteinander?
Wenn ich euch zuschaue, komme ich mir manchmal vor wie beim „Leben des Brian“: verschiedene Gruppierungenen, die alle Pilatus‘ Frau entführen wollen, treffen aufeinander und prügeln sich wegen der Frage, wer die Idee mit der Entführung zuerst hatte. Brian ruft irgendwann über die Köpfe der Raufbolde hinweg: „Lasst uns zusammen ringen!“ Die vielstimmige Antwort: „Tun wir doch!“
Im Film ist das witzig – aber wir sind hier in der Realität!
Ihr redet ständig von der Brandmauer gegen die AfD. Tatsächlich baut ihr euch jeweils eure eigene Brandmauer, die bei manchen etwas höher ausfällt, während sie bei anderen schon etwas löchrig zu sein scheint.
Ist das so schwer zu verstehen, dass ihr eine wirkungsvolle Brandmauer gegen die AfD nur gemeinsam hochziehen und verteidigen könnt?
Und nebenbei bemerkt: Was ist eigentlich aus „Nie wieder ist jetzt“ geworden?
Nun zu ein paar inhaltlichen Punkten.
Was treibt ihr da gerade an unseren Grenzen?
Die Migration ist nicht die „Mutter aller Probleme“, auch die so genannte illegale Migration nicht.
Meine Güte, lasst euch doch nicht von der AfD in so eine nationalistische Politik treiben!
Ihr holt damit keinen einzigen Wähler, keine einzige Wählerin zurück. Die wählen nämlich lieber das Original statt der Kopie. Das ist seit Jahren bekannt und spiegelt sich auch in den Ergebnissen der letzten drei Landtagswahlen wider – warum handelt ihr nicht entsprechend?
Vielleicht kümmert ihr euch zum Beispiel mal um die Infrastruktur:
Wir möchten wohl alle nicht mit mulmigem Gefühl über marode Brücken fahren oder ständig in verspäteten Zügen sitzen.
Oder wie wäre es mit etwas mehr Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit? Das wäre ein großer Gewinn für den sozialen Frieden!
Dazu gehört selbstverständlich, dass ihr nicht verschiedene marginalisierte Gruppen gegeneinander ausspielt, während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung sich gemütlich zurücklehnen können und von oben herabschauen auf den unzufriedenen, aber uneinigen „Pöbel“.
Oder das Bildungssystem: Was glaubt ihr, was aus Kindern für Erwachsene werden, die in der Schule um jedes Blatt Toilettenpapier kämpfen müssen? Denen gesagt wird, sie hätten ohnehin keine Perspektive? Was soll dabei herauskommen? Dafür, dass Kinder unsere Zukunft sind, könnten sie etwas mehr Wertschätzung und Teilhabe erfahren.
Ihr habt euch schon vor langer Zeit aus den ländlichen Gebieten im Osten zurückgezogen und das Feld AfD & Co. überlassen. Und da wundert ihr euch, dass vor allem Jugendliche in Scharen auf deren Angebote anspringen? Und wo wir schon bei den Jugendlichen sind: Ich sage nur „Tiktok“, das habt ihr auch verpennt, während die AfD dort munter zielgruppengerecht mit den Algorithmen spielt.
Und ja, auch beim Thema Integration und Migration gibt es Baustellen.
Haltet ihr das für eine gute Idee, ausgerechnet jetzt ausgerechnet an Integrationsprogrammen zu sparen? Echt jetzt?
Ich könnte noch eine Weile so weitermachen – mit der Verantwortung der Medien zum Beispiel, aber dann kommt hier sonst niemand mehr zu Wort.
Die meisten Wahlberechtigten in diesem Land wählen nicht die AfD– bisher zumindest.
Eure Politik muss sich den Menschen in diesem Land verpflichtet fühlen – sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Ihr seid allen Menschen gegenüber in der Pflicht, nicht nur den knapp 20%, die laut aktuellen Umfragen bundesweit die AfD wählen würden.
Wenn ihr euren Politikstil nicht ändert, werden sich weitere Wähler:innen mit Grausen abwenden, ihr werdet noch mehr Stimmen verlieren.
Ich habe mich in den letzten Tagen ehrlich gesagt auch manchmal gefragt, wen ich eigentlich bei den Bundestagswahlen im nächsten Jahr wählen soll. Die Nazis werden es aber ganz sicher nicht.
Für diese und viele weitere Herausforderungen ist aber nicht die Bekämpfung der Migration die „Mutter aller Lösungen“. Wir erwarten echte sachorientierte Lösungen für die tatsächlichen Probleme. Lösungen, die in einem demokratischen Wettstreit gefunden und dann umgesetzt werden, statt immer wieder von vorne anzufangen, in der Hoffnung, für sich selbst doch noch einen kleinen Punkt zu machen.
Das geht vor allem an die Parteien in der Ampel: Das Bild, das ihr abgebt, ist grauenvoll und abschreckend. Wir erwarten endlich einen Wumms, oder besser noch einen Doppel-Wumms – dafür müsste sich Olaf Scholz aber mal aus seinem Schneckenhaus wagen und wirklich auf den Tisch hauen. Keine Sorge: Das halten wir aus!
Noch ein Wort an die CDU: Ihr führt euch auf, als hättet ihr die letzten 50 Jahre in der Opposition verbracht. Meine Güte, ihr hattet doch wirklich genug Gelegenheit, Politik zu gestalten und Lösungen voranzubringen!
Im Allgemeinen versuche ich immer, mich nicht zu Pauschalisierungen hinreißen zu lassen. Das ist mir gerade nicht so gut gelungen, wie gesagt: Ich bin sauer und ehrlich gesagt auch ein wenig erschöpft. Ich fühle mich manchmal, als würden wir mit unseren Bündnissen gegen Windmühlen kämpfen.
Zum Schluss meiner Rede versuche ich trotzdem noch eine Differenzierung:
In allen demokratischen Parteien in den Parlamenten gibt es nicht wenige Menschen, die für eine sach- und lösungsorientierte Politik kämpfen, statt sich von Populismus leiten zu lassen. Leider sind sie meist nicht in der Position, diese Richtung parteiintern durchzusetzen.
Diesen Menschen möchte ich sagen: Wir sehen euch!
Bitte gebt den Kampf innerhalb eurer Parteien nicht auf, zieht euch nicht zurück!
Wir als Zivilgesellschaft können die Welle, die von Thüringen, Sachsen und Brandenburg auf uns zukommt, nicht ohne euch brechen!
Und die Zivilgesellschaft selbst? Wir müssen zusammenhalten gegen diese Welle, auch über die Stadtgrenzen hinweg. Wir müssen uns in Solidarität üben, unabhängig von parteipolitischen Präferenzen, Konfessionen, Gehaltsklassen.
Wir müssen uns mit Verbündeten umgeben und uns gegenseitig unterstützen, um nicht am Ende in der Welle unterzugehen, jede und jeder für sich allein.
In diesem Sinne: Alerta und Solidarität!
Danke fürs Zuhören!
Cordula Vordenbäumen
Recklinghausen, 03.10.2024