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Herner Versprechen: Die Reden

Bündnis Herne am März 24, 2024

Mont-Cenis-Gesamtschule - Havle Nazik - Bündnis Herne

Mont-Cenis-Gesamtschule


Liebe Demonstrantinnen und Demonstranten,


wir sind Schüler von der Mont-Cenis-Gesamtschule und bedanken uns zunächst bei den Organisatoren, dass wir hier sprechen dürfen, denn auch wir wollen ein Zeichen setzen und uns aktiv gegen Fremdenfeindlichkeit und für Offenheit und Toleranz gegenüber allen Menschen einsetzen.

Unsere Schule besuchen über 1200 Schülerinnen und Schüler aus 89 Nationen.
Wir sind bunt und das wollen wir auch bleiben.


Einen Großteil jeden Tages verbringen wir zusammen.
Lernen gemeinsam.
Lachen gemeinsam.
Leben gemeinsam.


Umso besorgter sind wir, dass es Menschen gibt, die unseren Wert an Religion, Hautfarbe und Herkunft festmachen wollen.
Dass es Menschen gibt, die möchten, dass unsere Freunde, Mitschüler, Lehrpersonen und Mitmenschen oder sogar wir selbst, aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden sollen.
Dass es Menschen gibt, die wieder aus Deutschland vertreiben wollen.
Dass es Menschen gibt, die uns die Freiheit nehmen wollen.


Wir sprechen uns gegen Rassismus und Diskriminierung aus.
Wir möchten eine bunte Schule bleiben.
Wir möchten eine Stadt, in der Vielfalt und Zusammenhalt gelebt wird.
Wir möchten ein Land, in dem die Demokratie geschützt wird.


Denn jeder, jeder einzelne ist wertvoll und deshalb müssen wir laut werden.

Für uns.
Für unsere Familien und Freunde.
Für unser Zuhause.


Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


Havle Nazik


Hallo,

zuerst möchte ich mich bei allen Teilnehmenden und den Organisator:innen bedanken. Es bedeutet mir sehr viel, dass sich so viele mit uns solidarisieren. 
 Ich glaube, dass in den letzten Tagen viel gegen Rechtsextremismus getan wurde, aber wenig für die Betroffenen. Deshalb möchte ich mit meinem Redebeitrag einen Einblick in die Gefühlswelt der Betroffenen geben. Natürlich ist das nur meine Sichtweise auf die Dinge, aber ich denke, dass sich da einige wiederfinden werden. Mein Beitrag bezieht sich auf das, worauf das Weltbild der AfD und anderer Rechtsextreme beruht: auf eine Trennung zwischen „Wir“ und „ die Anderen“. Zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“.
 

Ich bin geboren und aufgewachsen in Deutschland. Ich besitze den deutschen Pass.

Bin ich deutsch?
 

Ich besuchte einen katholischen Kindergarten, ging regelmäßig in die Kirche. Ich beherrsche die deutsche Sprache einwandfrei. 
Bin ich deutsch?

Ich habe zwar keinen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stehen, Herr Merz, doch ich liebe Weihnachten.
Bin ich deutsch?

Ich rege mich über Unpünktlichkeit auf und schnäuze mir ungeniert die Nase laut in der Öffentlichkeit.
Bin ich deutsch?   

Ich kann nur meinen Kopf schütteln, über das verschwendete Potenzial der perfekt ausgebauten niederländischen Autobahnen, weil dort eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 120 herrscht.
Bin ich deutsch?

Ich liebe Brot und Goethes Faust. Ich benutze Redewendungen wie „Ich glaub‘ mein Schwein pfeift!“
Bin ich deutsch? 

Ich höre zwar kein Schlager, meine Augen sind nicht blau und ich mache auch keinen Urlaub an der Nord- oder Ostsee. Aber ich wandere gerne.
Bin ich deutsch?

Ich heiße Havle Nazik. N A Z I K
Wäre ich deutsch genug, wenn ich das K aus meinem Nachnamen löschen würde?

Ich bin Deutsch-Türkin. Ich bin heimatlos. Werde ich bald auch staatenlos sein?


Bündnis Herne


Say their names. Sagt ihre Namen.

  • Gökhan Gültekin
  • Sedat Gürbüz
  • Said Nesar Hashemi
  • Mercedes Kierpacz
  • Hamza Kurtović
  • Vili Viorel Păun
  • Fatih Saraçoğlu
  • Ferhat Unvar
  • Kaloyan Velkov

 

Lasst uns einen Moment schweigen.

*****

 

Gestern vor vier Jahren, am 19. Februar 2020, erschoss ein Mann diese neun Menschen in Hanau innerhalb weniger Minuten, weil er sie für „Ausländer“ hielt. Sie gehörten seiner Meinung nach nicht nach Deutschland. Anschließend tötete er seine Mutter und auch sich selbst.

In seinem Wahn war ein detailliertes fremdenfeindliches und rechtsextremes Weltbild fest verankert. Rassismus tötet.


Diese neun Namen stehen stellvertretend für zahlreiche Mitmenschen, die aus ähnlichen Motiven angegriffen wurden und werden: Weil jemand als migrantisch wahrgenommen wird, weil jemand vom traditionellen Verständnis von Familie und Geschlechtszugehörigkeit abweicht, weil sich jemand für politische Ziele einsetzt, die nicht den eigenen entsprechen.


Dieser Anschlag auf unsere tolerante, freie und vielfältige Gesellschaft steht stellvertretend für viele weitere in den vergangenen Jahren.

Die Täter handeln meist einzeln, bedienen sich aber an der Ideologie der Neuen Rechten; die AfD trägt erheblich zu ihrer Radikalisierung bei.

 

Auch insgesamt erleben wir eine Verrohung in der Auseinandersetzung um die Lösung politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen. Viele Verteter:innen verschiedener Parteien sehen sich zum Teil widerlichen Anfeindungen ausgesetzt. Häufig kommt es inzwischen auch zu körperlichen Angriffen. Journalist:innen machen ähnliche Erfahrungen.


Es ist erschreckend, wie es der Neuen Rechten auch ohne Regierungsverantwortung gelungen ist, die Grenzen des Sag- und Machbaren immer weiter zu verschieben – während sie gleichzeitig schimpfen, was man heute alles nicht mehr sagen dürfe.

Es ist erschreckend, wie hilflos die demokratischen Parteien auf diese immer neuen Vorstöße der AfD reagieren. Es endet häufig in der Nachahmung ihrer Themensetzung.

Dabei konnte man inzwischen eigentlich die Erfahrung machen, dass sich die Menschen im Zweifelsfall für das Original und nicht für die Kopie entscheiden.

Es ist erschreckend, wie sehr Vertreter:innen der demokratischen Parteien härter und zynischer werden: in der Argumentation zu politischen Positionen und Entscheidungen, aber auch im Umgang mit Konkurrent:innen aus dem demokratischen Spektrum.

Wir appellieren deshalb an die Vertreter:innen der demokratischen Parteien: Lasst euch nicht auf dieses Niveau hinab, lasst euch nicht auf einen Populismus-Limbo ein! Damit gewinnt ihr nicht einen Wähler, nicht eine Wählerin zurück!

Macht den Wähler:innen ein nachvollziehbares und vor allem langfristiges Angebot. Vermittelt glaubhaft, dass ihr eine Idee, vielleicht sogar eine Vision habt von unser aller Zukunft!

Wir appellieren an all die Menschen, die sich gerade an zum Teil spektakulär großen Demonstrationen beteiligen und damit deutschlandweit ein sehr deutliches Zeichen gegen die AfD setzen:

Dieses Engagement muss sich in der Beteiligung an den kommenden Wahlen widerspiegeln. Über die zukünftigen Mehrheitsverhältnisse wird an den Wahlurnen entschieden, nicht auf der Straße!

Dieses Engagement muss sich aber auch im Alltag widerspiegeln: Wenn jemand aufgrund seiner Herkunft, seines Aussehens, seines Geschlechts oder was auch immer angegriffen wird, steht auf und erhebt eure Stimme! Haltet dagegen!

Und haltet nicht nur dagegen, bekämpft Faschismus mit Empathie. Immer. Sprecht mit euren Freund:innen, Bekannten, Verwandten und fragt, wie es ihnen mit den aktuellen Ereignissen geht. Sprecht mit ihnen über ihre Ängste und Gedanken. Zeigt ihnen, dass sie auf euch zählen können und dass ihr ‚Verbündete‘ seid.


Wir appellieren an die potentiellen Wähler:innen der AfD, die noch nicht über ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild verfügen:

Wenn ihr mit dem politischen Angebot von Ampel, CDU oder der LINKEN nichts anfangen könnt: Wählt aus dem großen Angebot auf dem Stimmzettel irgendeine andere demokratische Partei, aber nicht die AfD oder eine der anderen rechtsextremen Parteien! Sie schaden uns allen, und ganz besonders den ohnehin schon nicht so gut gestellten Menschen in diesem Land.

Nicht zu wählen, ist keine Option: Eine geringere Wahlbeteiligung spielt der AfD zusätzlich in die Karten.


Wir sagen es noch einmal ganz deutlich:

Die AfD ist keine Protestpartei, und sie ist erst recht keine Alternative.

Sie ist das Ende unserer Freiheit!

*****


Wir als Zivilgesellschaft können die AfD mit unseren Demonstrationen nicht in die Schranken weisen. Die demokratischen Parteien allein schaffen es augenscheinlich auch nicht.

Es braucht den Zusammenhalt aller Kräfte über die ganze Bandbreite des demokratischen Spektrums, um die AfD nicht nur zu schrumpfen, sondern zu übertrumpfen.

Darum stehen wir heute hier, alle zusammen, mit Vereinen, Institutionen, Unternehmen und den demokratischen Parteien.

Darum sind die Stadtverordneten der demokratischen Parteien nach ihrer Ratssitzung zu uns gestoßen und werden gleich das Herner Versprechen unterschreiben.

Wir wollen mit dem Herner Versprechen ein Signal aussenden:

Wir mögen alle sehr unterschiedliche Vorstellungen haben, wie die Lösungen zu politischen oder gesellschaftlichen Herausforderungen aussehen sollen.


An einem Punkt sind wir uns aber alle einig:

Wir lassen uns die Errungenschaften unserer freiheitlichen, toleranten und vielfältigen Gesellschaft nicht kaputtmachen von der vorgestrigen menschenverachtenden Ideologie der AfD.

 

Wir lassen uns nicht spalten.

Wir sind unteilbar!

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